Der Patient, den wir heute vorstellen dürfen, zeigt seit Januar eine Hangbeinlahmheit vorne rechts. Dieser Fall demonstriert nicht nur die Arbeitsweise der funktionellen Orthopädie – er zeigt auch, wie diese selbst „aussichtslosen“ Patienten helfen kann.
Der Husky Dante wurde mit Verdacht auf Muskelzerrung beim hauseigenen Tierarzt vorgestellt. Entzündungshemmer und Physiotherapie brachten jedoch keine Linderung. Deswegen wurde Dante im April in unserer Praxis vorgestellt.
Die funktionelle Orthopädie
Die funktionelle Orthopädie beschäftigt sich mit den orthopädischen Strukturen und deren Pathologie. Im Speziellen geht es um die Beweglichkeit, genauer:
- Die Freiheitsgrade von Gelenken und Gliedmaßen.
- Strukturelle physiologische und pathologische Befunde.
- Generelle (Dys)Funktionen der Gelenke sowie
- regionale orthopädische Strukturen (wie an Beckengürtel oder Wirbelsäule).
In dem hier vorgestellten Fall ist die Schulter des Hundes der Fokus. Die Begriffe Range of Motion (ROM) und Range of Freedom (ROF) spielen bei Dante eine besondere Rolle. Sie geben Auskunft über die Funktion oder – hier – die Dysfunktion eines Gelenkes, ob es normal, verändert, oder eben physiologisch oder pathologisch auffällig ist.
Die Untersuchung der funktionellen Orthopädie erfordert, wie alle Spezialisierungen, große Zeit und Erfahrung. Auch, um rassespezifische Veränderungen der Hunde zu erkennen. Die Behandlung differiert stark, auch, was die Größen- und Massenunterschiede der Patienten betrifft. Nebst Erfahrung und Zeit ist gerade deswegen auch Feingefühl erforderlich, um den individuellen Anforderungen der Patienten gerecht zu werden.
Das Ziel der funktionellen Orthopädie
In aller Kürze ist das Ziel der funktionellen Orthopädie dieses: Hunde werden orthopädisch untersucht, um strukturellen Veränderungen auf die Spur zu kommen und diese zu behandeln.
Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass eine Lahmheit beim Hund als Ursache eine Dysplasie, eine Arthrose oder andersweit eine defekte Struktur aufweisen muss. Diese Annahme ist größtenteils korrekt: 50-60% der Lahmheiten beim Hund lassen sich darauf zurückführen. Die restlichen jedoch haben eine funktionelle Ursache.
Man kann festhalten, dass in diesen Fällen die Statik oder Dynamik verändert ist, ohne dass strukturelle Pathologien vorhanden sind. Diese Fälle hängen meistens mit der Architektur oder Anatomie des Hundes zusammen.
Wo ist die funktionelle Orthopädie wichtig?
Ohne in die Breite gehen zu wollen, ist dies der Fall besonders bei
- Schultergürtel und
- Beckengürtel.
Die Schultergliedmasse beim Hund ist gerade deshalb wichtig, da diese im Gegensatz zum Menschen nicht als Rotatoren-Manchette aufgebaut ist, sondern als Synsarkose. Dies bedeutet konkret, dass die Schultergliedmasse durch einen Flansch mit dem Brustkorb verbunden ist und dadurch relativ instabil daran entlang gleiten kann. ROM und ROF spielen hier eine besondere Rolle.
Ein weiterer Punkt ist, dass viele canine Schulterpathologien Fälle von Weichteilpathologien darstellen. In der Folge können viele Pathologien weder mit Röntgen, Ultraschall, noch mit MRT oder CT diagnostiziert werden. Neben dem genannten Fingerspitzengefühl der orthopädischen Untersuchung ist deswegen die funktionelle Diagnostik unverzichtbar. Darunter zu verstehen ist die Gangbilddiagnostik mit einer „Inertial Sensor Unit“ oder kurz IMU.
Vergleichbar ist der Beckengürtel. Dieser ist durch dieselbe Weise mit der Wirbelsäule verbunden; das sogenannte Ileo-sakral Gelenk ist zu 70% eine bindegewebige Verbindung zwischen Darmbein-Schaufelgelenk sowie dem Kreuzbein. Wichtig am Beckengürtel ist die Anzahl an frei liegenden Nervenendigungen. Ebenso andere Rezeptoren, die Beweglichkeit und vor allem Schmerzen nozizeptiv regeln. Auch bei dieser Verbindung definiert der Anteil der Weichteile die Region.
Insbesondere bei Hunden ist dieser Bereich, die cauda equina, für die Pathologie der Hinterhand sehr wichtig. Bei Welpen stellt der Beckengürtel die anatomischen Strukturen für die Entwicklung der Hüfte, bei Junghunden ist er bedeutsam für den Trainings- und Bewegungsaufbau. Und im mittleren Alter der Hunde finden hier die Bandscheibenpathologien ihren Anfang.
Man kann festhalten, dass gerade diese lumbo-sakrale Instabilität im Zusammenhang mit dem Beckengürtel eine entscheidende Rolle einnimmt für den Beginn von Schwächen der Hinterhand und Schmerzen.
Welchen Prinzipen folgt die funktionelle Orthopädie?
Wenn wir über die funktionelle Orthopädie uns unterhalten, müssen wir folgende Aspekte im Fokus behalten:
- Reiz-Reaktions-Prinzip,
- Form-Funktions-Veränderungen,
- Arndt-Schulze Regel und die
- Anpassungsfähigkeit der Orthopädie.
Betrachten wir zunächst Punkt a), der auch als „actio=reactio“ gelehrt wird. Konkret in der Hundemedizin: Wenn der Hund ungezügelt tobt und spielt und schließlich heftig stürzt, hat dies Folgen. Diese können unmittelbar, aber auch verzögert auftreten. Gerade dies ist bei Lahmheit der Schulter- oder Beckengliedmassen zu berücksichtigen.
Hier kommt auch Punkt b) hinzu: Eine Pathologie kann strukturell oder funktionell sowie absolut oder relativ sein. Bei der Hüftgelenkdysplasie beispielsweise spricht man von einer absoluten Form-Funktions-Veränderung. Von relativen Pathologien spricht man im Zusammenhang mit Schmerzen im ISG oder einem verkippten Becken im Hoch- oder Tiefstand.
Die Arndt-Schulze Regel lässt sich in aller Kürze erklären. Jede physiologische Bewegung trainiert und fördert die Stabilität des Skelettsystems sowie die Muskulatur. Auf der anderen Seite kann überfordernde Bewegung oder überforderndes Training pathologische Folgen haben. Grundsätzlich geht es darum, Maß zu halten. Dieser Devise ist vor allem beim Welpen im Wachstum von entscheidender Wichtigkeit.
Die Anpassungsfähigkeit des orthopädischen Systems kann im selben Zuge auch positive Auswirkungen haben. So kann diese bedeuten, dass Folgen des Ausdauer-, Kraft- und Schnelligkeitstrainings jederzeit in das orthopädische System übertragen werden. Auf der anderen Seite jedoch gibt es auch negative Folgen.
Als weiteres Praxisbeispiel ist das Hüpfen kleinerer Hunde zu nennen. Im Normalfall wird dies in Zusammenhang mit der Patella der Hunde gebracht. Ist die habituelle Patella jedoch nicht die Ursache, bleibt die Erklärung oft aus. Allgemein wird das Hüpfen in der Folge als „Tick“ gehandelt – was absolut nicht zutreffend ist. Der Hund zeigt schließlich keine orthopädischen Zwangshandlungen oder vergleichbares Verhalten. Die funktionelle Orthopädie liefert hier Aufschluss und führt das Problem auf die Biomechanik des Beckens zurück. Durch Toben, Spiel und unkoordinierte Bewegungen veränderte sich diese Biomechanik, während die Wachstumsfugen aufgrund des jungen Alters der Hunde noch offen sind. Diese Veränderungen zeigen sich in der Folge auch in der Beckengliedmasse. Abwandlungen der Statik ziehen Abwandlungen der Dynamik nach sich. Das Hüpfen ist Gegenmaßnahme, das konkrete Unterschiede der Frequenz, Step– oder Stridelength ausgleichen soll. Eine geeignete Analogie ist ein Differential bei Automobilen: Dieses gleicht die Unterschiede der Radumdrehungen der Achse, beispielsweise in Kurven, aus.
Erwähnenswert ist an dieser Stelle auch, neben der funktionellen Orthopädie, die Rolle der funktionellen Neurologie – auch im Zusammenhang mit dem Hüpfen kleinerer Hunde. Dem werden wir uns an anderer Stelle noch ausführlicher widmen.
Zusammenfassend muss festgehalten werden, dass die funktionelle Orthopädie und damit die Statik und Dynamik vermehrt in die veterinärmedizinische Orthopädie Einzug halten müssen – unter Einbezug der Biomechanik und ihren Regeln. Die funktionelle Diagnostik wird hier die nötige Grundlage bieten, auch die Behandlung nicht struktureller Störungen angehen zu können.
Schauen Sie sich den Fall von Dante auch als Video an: